Der Engel ohne Flügel




Eine Geschichte über eine Erzählung eines
Großvaters, hinter der mehr stecken könnte.



„Opa, Opa! Ich will noch eine
Geschichte!" sagte das Kind mit großen
Augen. „Noch eine? Waren die anderen nicht
genug? Na gut, aber worüber kann ich denn
noch etwas erzählen?" fragte der
Großvater mit einem Lächeln im Gesicht. Das
Kind sah sich auf der Suche nach Ideen im
Zimmer um und sein Blick blieb am Engel an
der Spitze des Weihnachtsbaumes hängen.
„Kennst du eine Geschichte über Engel? Über
Schutzengel?" Der alte Mann nickte: „Ich
kenn eine Geschichte, sogar eine Wahre. Das
alles passierte, als ich ungefähr so alt war
wie du jetzt. Damals war ich im Park mit
meinen Freunden. Wir haben verstecken
gespielt. Ich hab mich in einer Baumkrone
versteckt und gehofft, dass mich niemand
findet. Bald war ich als letztes übrig und
wollte höher in den Baum klettern, damit mich
meine Freunde auch ja nicht fanden. Nach oben
hin werden die Äste immer dünner, wie du
bestimmt schon bemerkt hast. Ich hab mich nur
mit einer Hand an einem dünnen Ast
festgehalten, als ich plötzlich abgerutscht
bin. Da hang ich, mit einer Hand an einem
dünnen Ast, der mich nicht lange halten
würde, wie ich wusste, und meine Freunde
wussten nicht, wo ich war. Ich betete zu
Gott, dass er mich beschützen und helfen
sollte. Ich hatte tierische Angst, dass der
Ast brechen würde." Der Mann machte eine
Pause. „Und was ist dann passiert? Ist dann
dein Schutzengel gekommen?" fragte das
Kind ungeduldig. „Ja, das ist er
tatsächlich", sagte der Großvater „Ich
hörte, wie das Holz zu knacken begann und
wusste, dass der Ast gleich brechen würde.
Ich schloss die Augen und hörte das letzte
laute Knacken und ließ aus Reflex den Ast los
und erwartete, dass ich fallen würde, aber
nichts geschah. Da öffnete ich vorsichtig die
Augen und sah sie. Du musst wissen, mein
Schutzengel ist ein Mädchen. Das heißt aber
nicht, dass alle Engel weiblich sind. Sie war
wunderschön. Lange, goldene Locken fielen ihr
leicht ins Gesicht, ihre blauen Augen waren
genau wie der Himmel voller Träume und sie
trug ein blass grünes Kleid." „Sehen
alle Engel so aus? Haben alle Engel goldene
Locken und blaue Augen?" unterbrach das
Kind die Erzählung „Sieht mein Engel auch so
aus?" „Das weiß ich nicht",
antwortet der alte Mann „Alle Engel sehen
anders aus. Aber alle sind wunderschön. Und
alle sind klug und stark. Mein Schutzengel
konnte mich mit einer Hand hoch halten. Sie
hielt mein Handgelenk umfasst und zog mich
mit Leichtigkeit hoch. ‚Noch ist es nicht so
weit für dich' flüsterte sie mir zu und
setzte mich auf einen dicken Ast ab. Dann hat
sie mir zu gewinkt und ist weg
geflogen." „Geflogen? Hatte sie Flügel?
Wie der Engel auf dem Baum?" fragte das
Kind verwundert und zeigte auf den Engel auf
der Tanne. „Nein, sie hatte noch keine
Flügel. Sie flog einfach so. Die Flügel
müssen die Engel sich erst verdienen, indem
sie uns beschützen. Mein Engel hat sich
vielleicht damals seine Flügel verdient. Wer
weiß... Ich habe sie seit dem nie wieder
gesehen." Der Großvater sah verträumt in
die Ferne und das Kind ging seinen eigenen
Gedanken nach. Nach ein paar Minuten wurden
sie jedoch von der Mutter unterbrochen:
„Kommt ihr zwei? Wir wollen spazieren gehen,
damit das Christkindchen die Geschenke
bringen kann." Die ganze Familie machte
sich bereit, und zog ihre dicken Jacken und
Schals an. Das Kind war wie immer sehr
ungeduldig und lief immer wieder vor raus.
„Pass auf! Es ist rutschig!" rief seine
Mutter ihm noch hinter her, als es ein
weiteres Mal die vereiste Straße entlang
lief. Das Kind bog um eine Ecke und übersah
das Eis auf dem Bürgersteig und, wie sollte
es anders sein, rutschte aus. Es fiel vorne
über und sah den Boden näher kommen. Vor
Schreck schloss das Kind die Augen aber der
erwartete Aufprall blieb aus. Das Kind ließ
die Augen fest geschlossen bis er ein leises
Kichern hörte. „Du kannst die Augen wieder
aufmachen. Dir wird nichts passieren"
hörte er eine weibliche Stimme sagen.
Vorsichtig öffnete er die Augen und drehte
sich um. Hinter ihm stand ein Mädchen, das
seine Hand ergriffen hatte und seinen Fall so
verhindert hatte. Nun zog sie ihn wieder auf
die Füße und sah ihn an. „Ist alles
okay?" fragte sie „Geht es dir gut? Das
war ziemlich knapp, was? Aber deine Zeit ist
noch lange nicht gekommen." Das Kind
nickte nur und betrachtete seine Retterin nun
näher. Sie hatte braune Locken und
schokoladenbraune Augen und trug ein
dunkelblaues Kleid. Sie war wunderschön.
„Danke" hauchte das Kind „Danke, du hast
mich gerettet!" „Das hab ich
wirklich!" rief das Mädchen überrascht
aus „Weißt du was das bedeutet? Ich danke
dir! Endlich ist es soweit! Wenn das mein
Bruder erfährt" und mit diesen Worten
umarmte sie ihn kurz, drehte sich um und flog
davon. Das Kind konnte seinen Augen nicht
trauen. Sie flog! Konnte es sein... Konnte es
sein, dass sie sein Schutzengel war? Konnte
es wirklich sein? Lächelnd sah er in den
Himmel aber sie war längst verschwunden und
nur noch die Sterne waren zu sehen. Später an
diesem Abend gab der Großvater seinem
Enkelkind noch ein letztes Geschenk. „Das ist
etwas ganz besonderes und ich habe es nur für
dich gemacht", sagte er und gab dem Kind
ein kleines in Seide eingewickeltes Geschenk.
Es wickelte es aus und fand eine kleine
Engelsfigur aus Holz. „Das ist seltsam"
sagte der Großvater „Als ich die Figur für
dich gemacht habe, hatte sie noch keine
Flügel." Da lächelte das Kind: „Aber
Opa, du weißt doch, die Flügel müssen sich
die Engel erst verdienen."