Werner Brattig war in den Schuljahren 1975/76 und 1976/77 mein Kunstlehrer am Humboldt-Gymnasium Solingen. Unter meinen anderen Lehrer fiel er bereits deshalb auf, weil er stets einen teuren Anzug im modernen Kunstunterrichtsraum trug. Ich gebe sofort zu, ich hatte Angst vor ihm, zumal er stellvertretender Direktor war. Er ließ uns, wir waren damals eine reine Jungenklasse, dank BabyBoomer-Jahrgang, nach Leistung sitzen. Ich konnte nicht malen, saß somit in der letzten Reihe auf Platz 36. Bei dem Bild "Osterspaziergang", das wie damals üblich mit Wasserfarben auf den Zeichenblock zu bringen war, ließ ich mir in meiner Verzweiflung von meinen 10 Jahre älteren Halbgeschwistern helfen. Das sollte ich bitter bereuen. Herr Brattig rief mich zu seinem Pult nach vorne. Der lange Weg von der letzten Reihe kam mir damals vor wie meine ganz persönliche Via Dolorosa. Er musterte mich kurz und fragte ganz ruhig und leise: WER HAT DAS BILD GEMALT? Ich. - WER HAT DAS BILD GEMALT? Das wiederholte sich, bis ich die Urheberschaft nicht mehr für mich beanspruchte. Herr Brattig war aber ein guter Pädagoge, denn er gab mir eine zweite Chance, aber diesmal bittschön ohne Hilfe. Eine Woche später musste ich dann wieder nach vorne. WER HAT DAS BILD GEMALT? Nun jedoch gab es nichts zu beichten. Ich habe das Bild tatsächlich selbst gemalt, aber unter Malanweisungen meiner Geschwister. Malen nach Worten, nicht nach Zahlen - so könnte man meinen. Er stellte mehrmals die bekannte Frage, aber ich blieb standhaft, weil ich diesmal auch der "Künstler" war. Herr Brattig entließ mich auf meinen Platz und gab mir eine 3,2. Das war für akzeptabel. Weise hat der Lehrer für die Anweisungen meiner Schwester ein paar Abzüge gemacht, ist dabei aber fair geblieben. Jahrzehnte später habe ich ihn 2002/2003 als damaliger Angestellter des Kunstmuseums wieder getroffen. Sein Gesicht war dasselbe, aber altersmilde geworden. Er blickte mich manchmal sinnend und prüfend an, fragte mich aber nie, ob wir uns kennen würden. Seine Phoenix-Bilder, die er damals im Museum ausstellte, habe ich bis heute nicht vergessen. Tolle Feuervögel! Eine bemerkenswerte Persönlichkeit. Bis ich dann Kunst abwählen konnte, hatte ich noch so manch anderen Kunstlehrer, aber keiner verfügte auch nur annähernd über das Format und über die Ausstrahlung eines Werner Brattig. Er gab uns einst eine besondere Bastelarbeit: aus Pappe sollte ein Strommast hergestellt werden - bei mir blieb die Arbeit ein Fragment... Aber bei jedem Strommasten, den ich in meinem Leben gesehen habe, gingen meine Gedanken an den alten Kunstlehrer zurück. Unvergessen. Mögen Sie in Frieden ruhen.