Hi Bruderherz,

heute ist wieder so ein Tag, an dem ich dich sehr vermisse. Wie gerne würde ich dir mein Herz ausschütten, dich um Rat fragen, mich an deiner Schulter ausweinen. Aber all das ist uns verwehrt geblieben.... Wir durften uns noch nicht mal kennenlernen, denn ich war noch zu klein, um es zu begreifen, dass mein Brüderchen um sein Leben kämpft und letztendlich verloren hat. Wie gerne hätte ich dich beschützt, dich getröstet, mit dir gestritten. All die Dinge getan, die Geschwister so machen. Deine Nichte und dein Neffe zeigen mir jeden Tag, wie vielleicht auch unser Leben hätte ausschauen können, wenn die Ärzte damals einfach richtig untersucht hätten und dich dann als Frühchen nicht einfach in einem normalen Bett auf den Gang geschoben hätten. Sie haben es aber getan und keiner hat sie dafür je zur Rechenschaft gezogen. Zurück blieben unsere verzweifelten Eltern und ich. Ich habe es nicht verstanden,die ganzen Jahre nicht, was immer zwischen uns stand, was ihre unterdrückte Trauer und Wut ausmachte. Heute weiß ich es: ein Kind, um welches nie getrauert werden durfte..... Ein Albtraum für uns alle, der unser Leben bis heute beeinflusst. Es gibt kein Grab, an welches wir gehen können, um Blumen hinzulegen oder einfach das Gefühl zu haben, dir nahe zu sein.... Unser Großvater wollte das Geld dafür sparen und hat dich ohne das Wissen unserer Eltern an die Pathologie gegeben... Wie grausam kann man eigentlich sein. Wieviel Leid wäre uns erspart geblieben, wenn wir einen Ort zum Trauern hätten. So bleibt mir nur dieser Ort hier, um zu zeigen, dass ich an dich denke. Vielleicht bist du ja an einem Ort, wo du fühlst, wie sehr ich dich vermisse. Jeden Abend wenn es sternenklar ist, schaue ich zum Himmel und denke an dich. Oma ist schon lange bei dir und sie hatte mir immer gesagt, der hellste Stern ist der, auf dem du sitzt. Ich hoffe, sie hatte recht. Mittlerweile gibt es mehr Menschen und Tiere, die mir sehr wichtig waren, die jetzt bei dir sind, als noch hier bei mir in diesem Leben... Bitte sorg dafür, dass die Wenigen, die mir noch geblieben sind, mir noch möglichst lange zur Seite stehen und mir Kraft geben können. Denn die verschiedenen Krankheiten, die seit Jahren meine ständigen Begleiter sind, zehren die Kraft allmählich auf. Auch den Überlebenswillen. Doch ich weiß, es gibt hier für mich noch einiges zu tun. Mach's gut, kleiner Bruder. Ich hab dich sehr lieb.....

Deine große Schwester