Hallo kleiner Bruder,
wieder einmal habe ich in den letzten Tagen gemerkt, wie sehr du mein Leben beeinflusst hast, obwohl wir uns gar nicht kennenlernen durften. Ich frage mich, wie mein Leben verlaufen wäre, wenn du nicht gestorben wärst. Hätten wir uns gut verstanden oder so oft als Teenies gestritten, wie deine Nichte und Neffe es tun.... Ich war gezwungen unser beider Leben zu leben, weil unseren Eltern das Trauern um dich nicht erlaubt war. Sie haben deinen Tod nie verwunden und dadurch wurden alle Träume, Ziele und Wünsche, die eigentlich an uns beide gerichtet worden wären nur an mich allein gerichtet. Wie oft war ich damit hoffnungslos überfordert. Aber außer Oma hat es keiner gesehen. Niemand hat die Not gesehen, bis die Depressionen so schlimm wurden, dass ich zum ersten Mal in die Klinik kam. Seitdem sind es 25 Jahre Therapie... Ich habe viel gelernt und begriffen. Und langsam beginne ich mich aus dieser - für mich - ungeträglichen Situation zu befreien. Es wird mir vielleicht nie ganz gelingen, aber vielleicht werden dann die dunklen Tage der Depression weniger. Die vielen Operationen, das Rheuma, die Depression, alles hat in den letzten Jahren so viel Kraft gekostet und noch nicht mal das bisschen Ruhe, was ich jetzt durch die kleine Rente habe, die ich bekomme, ist mir gegönnt. Viele, die keine Ahnung haben, wie es mir wirklich geht, neiden mir noch die Luft zum Atmen. Sie wissen nicht, dass mein Leben begrenzt sein wird. Irgendwann wird der Körper die jahrzehntelange Überforderung nicht mehr ertragen und seinen Dienst versagen. Sind mir ein paar Jahre des kleinen Glücks nicht gegönnt? Scheinbar nicht. Ich weiß nicht, wie lange ich diesen ständigen Kampf schaffe, ich hoffe und vertraue darauf, dass du mir zumindest über den Regenbogen Kraft schickst und mir zur Seite stehst. Jeden Tag wenn es sternenklar ist, suche ich den hellsten Stern und denke mir, dass du dort oben über mich wachst. Ich vermisse dich so unglaublich....
Deine große Schwester