Mitgefühl verfassen
Schreiben Sie an dieser Stelle einige freie Worte, drücken Sie Ihr Mitgefühl mit einem Gedicht oder Zitat aus, oder verfassen Sie einige persönliche Worte, wenn Sie den Verstorbenen kannten.

Eine Kerze für Der Mordversuch an einer Rose
wurde von Rico Graf eine Kerze entzündet.
Also spazierten die Gebrüder in wortkarger, doch geneigter, fast schwelgerischer Stimmung entlang des Haines. Und plötzlich: da! eine Blume – eine Rose am Wegesrand, ganz allein. Der Botaniker nahm mit einer funkelnden Neugierde in den Augen das kleine Rosenköpfchen in die Hand und betrachtete es: „Seht, eine Rosa! Sie hat rötlichbraune Stacheln, scharf, kegelförmig, spitz zulaufend, circa einen Zentimeter lang. Die laubgrünen Blätter sind gefiedert, ganzrandig gesägt. Kaum beachtenswerte Nebenblätter. Die Blüte sitzt einzeln und endständig auf dem Stiel. Hier: die Hochblätter, fünf Sepale, der Kelch aufgerichtet und drüsenbesetzt. Der Blütendurchmesser etwa fünf Zentimeter. Die Kronblätter sind rot. Vom Rande des Blütenbechers aufstrebend die Stamen mit ihren orangefarbenen Beuteln. Die Karpelle sind zahlreich, unverwachsen, vor allem ragen sie vom Hypanthium hoch. Die Griffel setzen seitlich an und sind frei. Die Narben sind kopfig. Der ganze Becher wirkt urnenförmig, oben zum Diskus ausgebildet. Mehr Wissen werde ich nur durch das Mikroskop herausbekommen. Ich schneide den Kopf ab.“
In diesem Augenblicke schubste der Moralist den Botaniker erzürnt zur Seite und rief: „Das tust du nicht! Es ist falsch!“
Der Botaniker machte einen irritierten Blick und fragte: „Was ist falsch? Es ist doch zum Wohle der Wissenschaft? Wie soll ich erkennen, wenn ich nicht habhaft werde?“
Der Moralist erwiderte: „Du bringst sie um! Bist du irre? Einsam steht das Blümelein, es ist nicht richtig ihr…welches Geschlecht hat sie?“
Der Botaniker: „Weiblich.“
„…ihr das Köpfchen abzuschlagen! Weißt du denn nicht, dass dieses weibliche Wesen hier ein Organismus ist? Lebt?“
„Sehr wohl weiß ich das.“
„So frage ich dich, würdest du auch mir den Kopf abschneiden, wenn dein Auge nicht mehr reicht? Mich unter deine Okularprothese schieben, wie es beliebt, nur um der, nein, deiner Wahrheit Willen?“
Der botanische Bruder wurde zornig: „Das ist ja! Du wagst es? Ich bin empört! Denkst du, dein Mund ist höher als mein Aug? Ich werd’ dir gleich!“
Er schubste seinen Bruder zurück. Jener schrie. Doch der dritte Bruder schnitt den beiden Streithähnen das Wort ab: „Ruhe! Ihr Hampelmänner! Dumme Strolche! Was streitet ihr?“
Die beiden anderen Brüder wendeten sich zu ihm, welcher just in diesem Moment auf die Knies niederfiel; dabei ging sein Oberkörper nach vorn, sodass er auch die Arme und Hände auf dem Boden abstützen musste, um nicht mit dem Kopf in die schmutzige Erde zu fallen. Die Bewegung wirkte beinahe rituell, zumindest aber theatralisch, obschon sich gleich zeigte, dass letzteres ganz und gar nicht der Fall war: „O liebste Rose! Du schönes Geschöpf! Sieh, wie ich mich vor dir verneige! Der Künstler sieht in dir die majestätische Vollkommenheit jedoch nicht… Sagte nicht Nietzsche in der Götzendämmerung: Dieses Verwandeln-müssen ins Vollkommene ist – Kunst? Was bedeutet aber majestätische Vollkommenheit zu deiner Vollkommenheit? Bloß menschliche! Kein Gedicht, kein Bild, keine Metapher kann die Schönheit deines lieblichen Antlitzes je beschreiben, je ermessen, je verstehen. Vermag die Poiesis es doch nie, dich in ganzer Reinheit auszudrücken, zu erschaffen. Ist alle imitatio doch nur künstlerisch-künstliche Schablone deiner natürlichen Schönheit, die weder Form noch Stoffe kennt! Und ist nicht schlimmer noch die Erfahrung der Schablone selbst wieder nur ein vorgestelltes, mit den Sinnen schabloniertes Abbild? Du bist eine immer schon vergangene Göttin! Dein Anblick macht mich zu deinem immer schon künftigen Untertan. Du bist im Raum, in dem ich nie sein werde. Du schönste! Deine purpurnseidenen Blätterlein, dein prachtvoller Blütenkelch, dein sinnlich-verzückender Duft und der Zauber deiner poetischen Grazie sind uneinnehmbar. Niemals erkennbar! Du beugst dich keiner Sittsamkeit, sondern bist natura simplicissima – unerreichbar für uns alle!“
Der Botaniker: „Das stimmt nicht! Ich werde schon zeigen, was zu beweisen ist, um auch ihr letztes Geheimnis, ihre so genannte Schönheit, zu erklären!“
Der moralische Bruder sprang sofort ein: „Aber Brüderchen, meinte nicht Schiller: Schönheit sei Freiheit in der Erscheinung? Lass sie in Ruhe! Und schrieb Kant nicht: Das Schöne ist das Symbol des Sittlich-Guten? Verhalte dich auch so! Bitte, so halte doch ein, liebes Bruderherz!“
„Ach, was! Philosophisches Kauderwelsch! Ich zeige dir, zu was nicht nur mein Auge fähig ist, sondern auch meine Hand!“
Nun zog er ein nicht ungroßes Messer hervor und prophezeite: „Ich werde diese Rose enthaupten!“
Der Moralist brüllte, doch dessen ungeachtet sprang der Botaniker vor, ergriff das zarte Hälschen der Pflanze, welche sich nicht im Mindesten zu wehren sich anschickte, und hob den anderen Arm mit der Klinge in der Hand, um ihn herabsausen zu lassen. Es pfiff das Metall durch die Luft und eine Rose schrie… Staub wirbelte auf, die Zeit verstrich langsamer, der Waldsaum war verstummt, Herzen donnerten. Der Moralist blinzelte, wischte sich die Augen und starrte zur Rose. Ein unglaubliches Entsetzen stieg in ihm auf. Blut tropfte zu Boden. Ein Kopf war geneigt. Hände ertasteten bebend den ausströmenden Lebenssaft. Die gefühllose Klinge ragte bis zum Schaft im Leib des Botanikers. Sein irrer Blick suchte das Antlitz seines Totschlägers, der ästhetizistische Bruder, welcher mit ruhiger Stimme flüsterte: „Siehst du, Brüderlein, das Schöne steht über deiner Wahrheit.“
Der Botaniker seinerseits stöhnte, dann brachen die Augen und er sackte zusammen. Der Moralist zitterte wie im Fieber, Zorn und Trauer verzerrten sein Gesicht und stockend füllte sich die Luft mit dem Klange seiner Litanei: „Du…bist…ein…Mörder! Du hast ihn getötet, nur um dieses Ding da zu schützen? Welch grausamer Wahnsinn muss in dir toben, wenn du zu solch tollem Teufelsakte fähig bist?“
„Ich verstehe dich nicht, mein moralischer Bruder. Müsstest du nicht meine Tat zu gute heißen? War es denn nicht ein engelshaftes Labsal, eine zutiefst göttliche Weise, ihn zu opfern, um sie zu behüten, ihre Schönheit zu wahren?“
„Es ist Unsitte, eine Seele zu töten, mehr noch! ist es doch die schlimmste aller schlimmen Sünden, du diabolische Kreatur! Sühne!“
„Um eine andere zu retten?“
„Was fragst du? Die göttliche Gerichtsbarkeit hätte ihn gerichtet! Er ist unser aller Zeuge und Richter!“
Der Ästhetizist lachte gehässig: „Ha! Sieh, du Narr. Wie deine irdische Ethik versagt, ziehst du Ihn zu Rate, der nicht ist. Doch nehm’ sie, die Schöne, zur Göttin! Genieße sie. Dann ist der Angriff durch rechte Hand pariert.“
„Du entscheidest nicht über Recht und Unrecht, Teuflischer! Soll das Fegefeuer der Hölle den infernalischen Wahn in dir verbrennen! Verführt bist du, verführt von diesem Ungeheuer da!“
Er deutete mit dem zittrigen Finger auf die stumme Rose. Der Ästhetizist aber brüllte: „Schweig, Bruder! Lass das Pathos! Lass die Klage! Glaub unsereinem: dieses Ganze / Ist für einen Gott gemacht! Das galt besonders für den Botanischen. Und für dich gilt es, nur noch eines zu sagen: das Schöne steht über allem!“
Und mit diesem, nennen wir es: den ästhetischen Imperativ, zuckte wieder eine gähnende Klinge auf und morgendliche Tautröpfen kullerten unter der goldäugigen Scheibe wie die Tränen einer Rose zu Grabe.